frühchristliche Literatur

frühchristliche Literatur
frühchristliche Literatur,
 
Bezeichnung für die Periode christlicher (theologischer) Literatur in spätantiker Zeit. Zur hellenistisch-spätrömischen Kultur gehörend, bildet sie jedoch zugleich durch deren Bekämpfung und die Ausbildung eigenständiger Formen die Grundlage für die europäische Literatur des Mittelalters.
 
Die frühchristliche Literatur in griechischer Sprache begann mit den Schriften des Neuen Testaments, so den Evangelien und den missionarischen, lehrhaften Briefen des Paulus (zwischen 50 und 56); ihnen ähnlich sind an nichtkanonischen Briefen die von Klemens I. (um 96-98) und des Ignatius von Antiochia. Andere Schriften des Neuen Testaments wie der Hebräer- oder Jakobusbrief sind eher literarisch geprägt. Die Apostelgeschichte schloss sich der hellenistischen Geschichtsschreibung sowie der Aretalogie an. Unter den Apokalypsen vollzog die des Johannes die Wendung zu einer romfeindlichen Haltung. Diese Gattungen wurden meist noch im 2. Jahrhundert in zahlreichen apokryphen Schriften weitergeführt (Thomas-, Jakobus-, Petrusevangelium oder Apostelgeschichten wie Paulus-, Petrusakten oder die Petrusapokalypse).
 
Um das Christentum in den gebildeten Kreisen zu verbreiten, verteidigten es die Apologeten, deren Hauptzeit noch ins 2. Jahrhundert fällt, mit den Mitteln der griechischen Philosophie; diese Gattung eröffneten Aristides (um 125), Justinus der Märtyrer (hingerichtet um 165) und Quadratus; der Syrer Tatian (Mitte des 2. Jahrhunderts) bekämpfte die griechische Kultur.
 
Eine Versöhnung von hellenistischem und christlichem Denken wurde erstmals Ende des 2. Jahrhunderts in der Katechetenschule von Alexandria erstrebt, die die griechische Philosophie (und das Judentum) als Vorstufe des Christentums verstand. Unter ihren Leitern ragten die Kirchenväter Klemens von Alexandria und sein Schüler Origenes hervor, der u. a. zahlreiche Kommentare zu biblischen Büchern verfasste. Der Bischof Eusebios von Caesarea wurde besonders durch seine historischen Werke bekannt, die Weltchronik und die Kirchengeschichte (3./4. Jahrhundert), die im 4./5. Jahrhundert von Gelasius von Caesarea (✝ 395), Rufinus von Aquileia, Philostorgius (* 368, ✝ 430), Sokrates Scholastikos, Sozomenos und Theodoretos von Kyrros fortgesetzt wurde.
 
Seit dem Anfang des 4. Jahrhunderts sah sich das Christentum gezwungen, das Heidentum zu bekämpfen. Nach der rechtlichen Anerkennung des Christentums (313) und seiner Erhebung zur Staatsreligion im Römischen Reich (380/381) wurden auch die rethorischen Formen der weltlichen Literatur zunehmend adaptiert. Die kappadok. Gelehrten Basilius der Große und Gregor von Nazianz genossen auch als Rhetoren hohes Ansehen, ebenso Gregor von Nyssa, der die christliche Glaubenslehre mit dem Neuplatonismus zu verbinden suchte. Berühmt wegen der rethorischen Vollendung seiner Reden und Predigten war auch der ihnen nahe stehende Johannes I. Chrysostomos.
 
Besonders beliebt war die volkstümliche Literatur der Märtyrer- und Heiligenlegenden. Die erste griechische Mönchsbiographie (357), die Lebensbeschreibung des Antonius des Grossen, durch Athanasios, den Patriarchen von Alexandria, wurde zum Vorbild für die hagiographische Vitenliteratur.
 
Im Rahmen der frühchristlichen Literatur schufen Gregor von Nazianz und Synesios von Kyrene nicht sangbare Lyrik. Eine Auswahl von Gregors Epigrammen wurde in die Anthologia Palatina aufgenommen. Eine Verbindung von Wesenszügen des Christentums und des Neuplatonismus wurde in den Werken des Synesios vollzogen, der u. a. einen zeitgeschichtlichen Roman sowie zahlreiche Briefe verfasste, ebenso in den Schriften eines um 500 unter dem Namen Dionysius Areopagita schreibenden, bis heute nicht eindeutig identifizierten Verfassers, die die mittelalterliche Mystik stark beeinflussten. Mit diesen christlich-neuplatonischen Autoren erreichte die Hellenisierung des Christentums einen Höhepunkt; ihr Einfluss wurde in der Theologie des Mittelalters wirksam.
 
Die ersten Zeugnisse in lateinischer Sprache (Klemensbriefe, Märtyrerakten) stammen noch aus dem 1./2. Jahrhundert n. Chr. Zur Verteidigung des Christentums bediente man sich der traditionellen Gattungen und rethorische Stilmittel, z. B. Marcus Minucius Felix in seinem Bekehrungsdialog »Octavius«. Besonders der zweisprachige Tertullian förderte durch Übersetzung theologischen Fachvokabulars das Entstehen einer lateinischen Kirchensprache. Sein Schüler Thascius Caecilius Cyprianus, Bischof von Karthago, hinterließ eine Briefsammlung mit wertvollen Nachrichten über seine Zeit. Lucius Caelius Lactantius (* um 250, ✝ nach 317) stellte in seinem Hauptwerk »Divinae institutiones« (um 310) die christliche Glaubenslehre erstmals umfassend in kunstvoller, an Cicero geschulter Sprache dar.
 
Nachdem das Christentum Staatsreligion geworden war, bestimmten dogmatische Probleme und häretische Streitigkeiten zunehmend die literarische Auseinandersetzung. Das wichtigste Werk gegen den Arianismus verfasste Hilarius von Poitiers. Ebenso setzte sich Ambrosius in Predigten und Schriften für die reine Lehre ein und stellte in »De officiis ministrorum« in Anlehnung an Cicero erstmals die christliche Ethik umfassend dar. Von nachhaltiger Wirkung waren die Hymnen, die Ambrosius für den Gottesdienst schuf, sodass er als Schöpfer des lateinischen Kirchenliedes gelten kann. Der klassisch gebildete Hieronymus vermittelte wie Rufinus von Aquileia das griechische kirchliche Schrifttum durch Übersetzungen in den lateinischen Westen; er begründete die Gattung der Heiligenvita und verfasste eine christliche Literaturgeschichte; seine Hauptleistung ist die vollständig übersetzte Bibel (»Vulgata«).
 
Als bedeutendster Kirchenvater gilt Augustinus, der mit über 100 Werken die Lehren der lateinischen Kirche nachhaltig prägte. Anders als sein Schüler Paulus Orosius (5. Jahrhundert) in den »Historiae adversum paganos« sah er in »De civitate Dei« die Menschheitsgeschichte als Abfolge von sechs heilsgeschichtlichen Epochen bis zum Jüngsten Gericht. Kritisch setzte er sich mit philosophischen und theologischen Strömungen seiner Zeit auseinander, die er teils anerkannte (Neuplatonismus), teils als Irrlehren bekämpfte. Mit den »Confessiones« begründete Augustinus die Gattung der Autobiographie und gab seinem alphabetischen »Psalmus contra partem Donati« eine so vorbildliche Form, dass neben den metrischen auch zunehmend gereimte und akzentrhythmische Verse in der christlichen Poesie verwendet wurden.
 
Die Dichtung verherrlichte die neuen, christlichen Ideale, indem sie zunächst biblische Geschichten in Hexametern nacherzählte, dann freier religiöse Themen aller Art behandelte. Das christliche Epos beginnt mit Gaius Iuvencus, der um 330 die Evangelien bearbeitete; wenig später verfasste die Dichterin Proba eine biblische Blütenlese und ahmte dabei Vergil in Wort und Stil nach; in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts gestalteten Claudius Marius Victor (✝ zwischen 425 und 450) in der »Alethia« und Sedulius im »Carmen paschale« den Sündenfall und das Osterwunder; nach 500 schilderten Alcimus Avitus (* um 460, ✝ 518) die Frühzeit des Volkes Israel und Arator (* um 500, ✝ um 550) das Wirken der Apostel Petrus und Paulus in kunstvollen Versen. - Dichtungen dogmatischen Inhalts verfasste Prosper von Aquitanien vor 455 und der nicht sicher datierbare Commodianus. Blossius Aemilius Dracontius (Ende 5. Jahrhundert) besang die Größe Gottes, Papst Damasus I. (4. Jahrhundert) und etwas später Paulinus von Nola priesen die Taten der Märtyrer, deren Lob auch das durch metrische Vielfalt beeindruckende Werk »Peristephanon« des bedeutendsten christlich-lateinischen Dichters Prudentius galt. Dieser schuf mit der »Psychomachia«, einer Darstellung des Kampfes zwischen Tugenden und Lastern, ein im Mittelalter besonders geschätztes allegorisches Epos.
 
Ausgaben: Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum (1867 ff.); Die griechischen christlichen Schriftsteller, herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1897 ff.); Corpus Christianorum, Series Latina (1953 ff.); Corpus Christianorum, Series Graeca (1977 ff.).
 
 
M. Manitius: Gesch. der christlich-lat. Poesie bis zur Mitte des 8. Jh. (1891);
 O. Bardenhewer: Gesch. der altkirchl. Lit., 5 Bde. (21913-32, Nachdr. 1962);
 W. von Christ u. a.: Gesch. der griech. Lit. Bd. 2, 2 (61924, Nachdr. 1981);
 M. Dibelius: Gesch. der urchristl. Lit. (1926, neu bearb. v. F. Hahn 1975, 31990);
 K. Schneider: Geistesgesch. des antiken Christentums, 2 Bde. (1954);
 A. von Harnack: Gesch. der altchristl. Lit., 4 Bde. (Neuausg. 1958);
 K. Thraede: »Epos«, in: Reallex. für Antike u. Christentum, hg. v. T. Klauser, Bd. 5 (1962);
 M. Schanz: Gesch. der röm. Lit., Bd. 3 (Neuausg. 1969), Bd. 4, 1 (21914, Nachdr. 1970), Bd. 4, 2 (1920);
 R. Herzog: Die Bibelepik der lat. Spätantike (1975);
 D. Kartschoke: Bibeldichtung (1975);
 H. von Campenhausen: Lat. Kirchenväter (51983);
 H. von Campenhausen: Griech. Kirchenväter (71986);
 B. Altaner u. A. Stuiber: Patrologie (Sonderausgabe 1993).

Universal-Lexikon. 2012.

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